irritationen


Markus Bundi, Januar 2005

Ist es denkbar, dass wir ungestört bleiben wollen?

Diese Frage ist nicht nett. Auch, aber nicht nur, weil nicht alle die Frage verstehen. Die Frage setzt ein Bewusstsein davon voraus, wie es ist, gestört zu werden. Ohne dieses Bewusstsein kann niemand ungestört bleiben wollen, Störfaktoren und Irritationen gehören bei dieser spezifischen Bewusstseinslosigkeit einer andern Welt an, einer fiktiven oder einer medialen. Derweil verschwindet die so genannte Wirklichkeit – die «Realität» – zusehends; sie mag der einen oder dem andern bereits als Utopie erscheinen. Was allerdings nicht störend ist, denn eine jede Utopie geht lautlos, fraglos und also unbemerkt in der medialen beziehungsweise fiktiven Welt auf. (Nebenbei: Die Unterscheidung zwischen fiktionaler und medialer Entität wird hier lediglich für einige wenige intellektuelle Spinner aufrechterhalten. Allen andern dürfte die Sache klar sein: Reale, fiktionale und mediale Welt lassen sich nicht unterscheiden, sind nur drei Bezeichnungen für ein und dasselbe: den «Brei». Bekannt auch unter dem Namen «Einheitsbrei» oder «Wahrnehmungseinerlei».)

Wir bekommen täglich unsern Brei. Leicht bekömmlich, gut verdaulich... die Einnahme geschieht ohne unser Dazutun. Es reicht, Augen und Ohren offen zu haben – damit ist der (Ein-)Fluss gewährleistet. Fachleute sprechen von mental high speed food, erklären die Amerikanisierung für abgeschlossen, schwören lässig auf die Globalisierung und reden hinter vorgehaltener Hand vom interfog, was von Altphilologen schwerfällig mit «weltweiter Beneblung» oder «totaler Umnachtung» übersetzt wird (wohlgemerkt: niemand hat nach einer Übersetzung verlangt).

Ist es denkbar, dass wir ungestört bleiben wollen?

«Machtung» gibt es nicht, heisst nichts... macht nichts. Ein Einheitsbrei ist unverdächtig, milliardenfach getestet, rund um den Globus erprobt, akzeptiert und immer wieder gern geschluckt. Schlucken ist wie nicken – es geht ganz ohne denken, es geht eigentlich von allein. Und darum geht’s uns gut. «Machtung» steht auf einer von Jean-Marc Seilers Affichen geschrieben. Es ist seine Bezeichnung des Breis. Als hätte sich der Mann nicht zwischen Achtung, Macht(-hunger bzw. -ergreifung) und Umnachtung entscheiden können. Das ist unverdaut, noch nicht einmal vorgekaut. Da sind absichtlich Fragen offen geblieben.

Diese Fragen setzen ein Bewusstsein davon voraus, wie es ist, gestört zu werden.

Eine andere Affiche, noch im vergangenen Jahrtausend von J.M.S. gestaltet, behauptet: «Bilder behindern das Lesen». Die Affiche stammt ohne Zweifel aus einer Zeit, als man dem Lesen noch Bedeutung zumass. Als wir noch unterschieden zwischen Sprache und Infusion, zwischen Text und Tafel. Das geht auf eine Zeit zurück, in der an Hochschulen noch über Form, Inhalt und Gehalt diskutiert wurde. Für Kunstwissenschaftler sei angemerkt: Quellen und Spurenelemente hin zu den Affichen von J.M.S. sind sowohl bei den Arbeiten von John Heartfield (1891–1968) wie bei jenen von Klaus Staeck (*1938) zu finden.

Die Affichen von J.M.S. reklamieren idealistische Werte, appellieren an die Moral. Dem Gestalter ist jedes sprachliche Mittel recht: einmal polemisch, dann wieder pathetisch, selten ironisch, gern zynisch, oft sarkastisch. Das Skandalon aber ist: Seilers Affichen bauen auf den gesunden Menschenverstand, fordern den Betrachter zum Nach- und Mitdenken auf. Die Affichen, harmlos noch mit «Anschlägen» zu übersetzen, sind nicht kleine Störungen, sondern vor allem eins: eine stete Anmassung. In Seilers Worten: «Früher wähnten sich Sklaven nicht in Freiheit.»

Dieser Satz ist nicht nett. Auch, aber nicht nur, weil nicht alle die Frage dahinter sehen.

Es gibt für und gegen alles ein Mittel, eine Lösung, ein Medikament, eine Antwort. Irritationen sind unerwünscht, schwer verdaulich, weil widersprüchlich. Es war also zu leicht daher gesagt, Seilers Affichen würden auf den gesunden Menschenverstand bauen. Denn wäre dieser Verstand noch gesund, die hier vorliegenden Arbeiten wären überflüssig: «Wir Geisteskranken setzen uns täglich mit den Denkpannen der gesunden Leute auseinander.» – Zu klären freilich wäre noch, wer die Minderheit vertritt und wer die Mehrheit. Zu klären...ergo: zu bedenken, zu diskutieren.

Ein Anstoss: J.M.S. bedient sich unlauterer Mittel. Er kombiniert Fotografien, Farben, Typografie und Text. Genauer: Seiler bedient sich seiner Mittel, seiner Fotografien und seiner Texte und entscheidet über Farben und Schrift. Was dabei entsteht, ist ein Konzentrat, eine gewollte Überdosis. Dieser Mann zielt auf unser Unterbewusstsein, allerdings ohne ein konkretes Produkt verkaufen zu wollen. Das ist perfid, spottet der freien Marktwirtschaft, verhöhnt den Liberalismus und nicht zuletzt die Demokratie. Kurzum: Ein subversiver Akt. Irritationen für jede und jeden, vorausgesetzt das Bewusstsein für Irritationen ist noch intakt – das eigene Denken halt.