eine vernissage-rede


Peter K. Wehrli, 26. Januar 2005, im Zentrum Karl der Grosse in Zürich

Wir haben Plakate um uns. Nicht nur in dieser Ausstellung. Fast überall. In dieser Ausstellung heissen sie französisch: Affichen. Im Wörterbuch ist «Affiche» mit «Anschlagzettel» übersetzt, und das entsprechende Verb «affichieren» mit «anschlagen». Also: Zettel, Plakate werden an die Wand angeschlagen. Jetzt wird mir klar, weshalb Jean-Marc Seiler seine Plakate Affichen nennt. Sie sind Anschläge. Angeschlagene Anschläge. Anschläge auf festgefügte Meinungen, Anschläge auf Vorurteile, Anschläge auf das vermeintlich Sakrosankte.

Die Affiche: «Siegen ist pervers»

Und dies ganz im Gegensatz zu den überall und weltweit angeschlagenen Plakaten und Affichen, die in uns Bedürfnisse wecken wollen, die wir (noch) nicht haben, Bedürfnisse nach Dingen, nach denen wir, wenn es sie nicht gäbe, gar nicht fragen würden, nach Gefühlen, deren wir, spürten wir sie, uns schämen würden. Da will man uns zu Teilnehmern machen im frenetischen Widerspiel von Angebot und Nachfrage, nach dem – wie die Geschäftsherren uns weis machen – der Lauf der Welt funktioniert: Botschaften mit Hintergedanken, Absatz, Umsatz und die Folgen. Das sind Anschläge auf unsere Sensibilität, Anschläge auf die Lauterkeit, Anschläge auf unser menschliches Gleichgewicht. Jean Marc Seilers Affichen sind Anschläge gegen all das, was dieses Gleichgewicht stört, diese Lauterkeit beschädigt, diese Sensibilität abstumpft. Plakate also, die für das Überdenken werben des Vertrauten, des Gewöhnlichen, das Überdenken dessen, was andere für uns gedacht und uns dann verordnet haben. Plakate für das Denken.

Die Affiche: «Nichts hat uns am Fortschreiten so sehr gehindert wie Fortschritt».

Walter Mehring, – er steht in Seilers biographischer Notiz – hat das Denken als das Ungewöhnliche bezeichnet in einer Welt die Denken verhöhnt, in der es “out” ist, den Dingen auf die Spur kommen zu wollen. Jeder Gedanke, der keine Wiederholung ist des längst schon verkündeten, sagte er, sei eine Provokation. In diesem Sinne hagelt es Provokationen in dieser Ausstellung.

Die Affiche: «Es würde uns besser gehen, wenn es uns nicht so gut gehen würde».

Und Walter Mehring gehört zu den Dadaisten. An diesen Provokateuren kommt man nicht vorbei, wenn man nach den Wurzeln von Jean-Marc Seilers Tun sucht. Typografische Unbotmässigkeit prägte ihre Botschaften auf Plakaten, auf Affichen. (Wer Dada tut, tut alles gut! Alles ist eine Reaktion auf Dada!) Und so wie Jean Marc Seiler heute, vollführten die Dadaisten 1916 ihre «Anschläge gegen die Überschätzung jener Vernunft, die Krieg und Zerstörung als logische Begleiterscheinung des menschlichen Lebens zu legitimieren versuchte». Und damals wie heute, wissen genau jene Kräfte, die sich als Austragungsort für Ideen nur den Markt vorstellen können, zu verhindern, dass diese Botschaften hier von den Plakatwänden zu uns sprechen. Wer gibt schon einen Franken für eine Idee? Marktwert hat höchstens die Zeitspanne, in der sie entwickelt wurde. Falls Zeit Geld ist. Und dass sie es ist, zeigen Zustände, die uns von einer Zeit träumen lassen, die kein Geld ist. Die Sehnsucht nach diesem Traum haben Jean Marc Seilers Affichen ausgelöst. Jetzt gälte es nur noch ihn zu träumen.

Die Affiche: «Früher wähnten sich Sklaven nicht in Freiheit».

Der Satz von Krieg und Zerstörung und den Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens gibt nicht das Recht, Seiler den Dadaisten zuzuschlagen. Im benutzten Medium und in der Methode ist er ihnen verwandt, in den Inhalten ist Seiler rigoroser. Radikaler. Denn er will verstanden sein. Kann er durchaus auch mit der Ironie arbeiten, der Un-Sinn, oder der “Nicht-Sinn”, auf denen die dadaistische Provokation gründete, reicht für Seilers provokatorische Absicht nicht aus. Er will Farbe bekennen, er will Klartext schreiben. Dem ,Un-Sinn’ seiner Vorgänger, dem ,Nicht-Sinn’ antwortet er mit “Doppel-Sinn”, mit “Hinter-Sinn”, mit ”Scharf-Sinn”. Und den erreicht er in der sprachlichen Konzentration, im Kondensieren ausführlicher Denkarbeit auf wenige Worte, einen Slogan sogar. Und zu dieser Denkarbeit gehört auch, die Fähigkeit, sich immer und überall von allem das Gegenteil vorstellen zu können. Und es gibt Fälle, in denen das Gegenteil das Bessere ist. An der Reibung zwischen Sachverhalt und Vorstellung entzündet sich die Vision von dem, was wünschbar ist, wünschbar sein muss. Und schon wieder sind wir beim Ingrimm des Spötters Mehring.

Die Affiche: «Warum lehrt uns die Schule wie man den Planeten plündert? Wie man ihn rettet, lehrt sie uns nicht».

Das Kondensieren. Davon hatten wir gesprochen, vom Hereinbrechen des Gedachten ins Wort, als Jean-Marc mir den Schlüssel zusteckte in seinem Satz “Willst Du mir Lust machen auf ein Buch, so verkürzest Du mir im Gespräch den vierhundertseitigen Roman auf zwei, drei Sätze!” Lust machen auf das Ganze. Genau so wollen Seilers kurze Botschaften Lust machen auf das Bezugsnetz, in das das Gesagte eingewoben ist, auf das, was dahinter steckt, eben: aufs Ganze, darauf auch, die Zusammenhänge aufzudecken, zu entdecken. Und Seiler meint immer das Ganze. Kurz und gut: Das Ganze, – auch dort wo er einen Teil dieses Ganzen benennt. Was er beispielsweise der EU vorwirft, das muss sogar ein EU-Befürworter, wie ich, akzeptieren. Denn Seilers Sätze stehen da als Warnlichter, als Mahnmale, als Schandmale. Sie sind nicht etwas, sie sind vieles.

Die Affiche: «Politiker warnen vor Ereignissen, die längst eingetroffen sind».

Nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, was da geschrieben steht, herausfinden, was gemeint ist: Lust machen auf Denken! Aufs Weiterdenken des Gesagten. Er will nicht kopfnickendes Einverständnis mit seiner Botschaft. Sonst hätte er die “Affiche” nicht formulieren können: «Eine Meinung verbreiten ist legitim. Behaupten, es sei die einzig richtige, leider auch». Da hat nun Seiler den kleinen Vorteil, dass seine Meinung eben doch nicht einfach eine ‘Meinung’ ist. Es braucht – in einigen Fällen! – nicht viel Mut, sie in ‘Erkenntnis’ umzubenennen. Die Praxis der Konzentration, der Kondensation hat diesen Schritt ermöglicht. Seiler bricht seine Gedanken in Sprache hinein. Denn in ihm steckt nicht einfach nur ein Agitator, das auch, nicht der Sloganschreier, als der er oft verstanden wird, in ihm steckt auch der Dichter, der vor 35 Jahren den höchst eindrucksvollen Text «Oliven» geschrieben und gesprochen hat. Gerade jetzt ist er auf CD wieder zu hören. Das Kondensieren, das Reduzieren auf den Kern von allem, das praktiziert Seiler auch als Dichter. Für mich, den frühen Fan von «Oliven», muss deshalb ein Satz ins Zentrum rücken, der ein Gedicht ist. Ein radikales Gedicht, so radikal, dass es alles in sich. einschliesst an Bezügen, die politischen, die gesellschaftlichen, die poetischen: Der Satz lautet: «Fragst Du den Wind, der dir in die Haare fährt, wie er das gemeint hat?» Lust auf Denken, mache Seiler. An diesem Satz erlebt man diese Lust über lange Zeit.

Wir reden von Sätzen und damit reden wir nur von etwas in diesen Blättern. Sie sind Bilder. Bild und Text ergänzen sich erst zum Ganzen, zur ganzen Affiche. Bild und Text reagieren fortwährend aufeinander. Wo ein Satz verbissen auftritt, ironisiert ihn – vielleicht – das Bild, wo der Satz wie ein Witz klingt, färbt ihn die Grafik blutig ernst, wo der Satz ein Gedicht sein könnte, macht ihn die Fotografie zum Manifest. Zum Menetekel. Das Visuelle gibt den Gedanken ihren Effet, wie die Queue der Billardkugel. Und umgekehrt! So bringt Seiler fast jede seiner Kugeln ins Loch. «Jetzt, wo man alles sagen darf, hört niemand mehr hin.» Ein Satz. Hühnerhaut verschafft er erst, wenn man merkt, in welches Bild er hineingeschrieben ist.

Mit Erstaunen habe ich in der Biographie des vehementen Anklägers Seiler gelesen, er habe in einer grossen Werbe- und PR-Firma gearbeitet, er habe Konzepte und Texte für Werbekampagnen erarbeitet. Der Kritiker der Werbe-Demagogie kommt von innen! Er kennt das Handwerk, hat erfahren, wie man Reklame als Information verkauft, und Propaganda als Gebrauchsanweisung tarnt.

Die Affiche: «Manche Chance hätte man besser nicht ergriffen».

Und er hat gemerkt, dass man lügt, wenn man Halbwahrheiten als Wahrheit anpreist. Aber anders als andere Werbeüberdrüssige gab er den Job nicht einfach auf, ging Seiler nicht ins Kloster. Er blieb bei der Sache: Er hat den Spiess umgedreht! Er ist Werber geblieben. Er wirbt für das Gegenteil dessen, was wir tagtäglich vor Augen haben, er wirbt für eine lebenswerte Welt. Er hat gelernt, wo und wann er den Gänsekiel in die Tinte tauchen muss und wo und wann er den Bleihammer auf die Tischplatte schlagen muss. Die, die er bekämpft, haben es ihm vorgemacht. Gerade das ist das faszinierende: Seiler bekämpft die Werbung mit ihren eigenen Mitteln. Auch wenn die anderen viel mehr “Mittel” haben, sich Gehör zu verschaffen. Seiler ist Werber, er wirbt für das Denken. Und wieder spukt Mehring herein: “Wer Krieg denkt, hat nicht gedacht”. Weiterdenken also. Doch, es ist so: So radikal wie Seiler hat selten einer für das Denken geworben. Seiler wurde gefragt: «Wollen Sie die Welt verändern ?». Seine Antwort: «Da mache ich mir keine Illusionen. Ich mache Affichen».